12

 

Manfreds Mutter, Rain Bernardo, war eine jüngere Ausgabe ihrer Mutter. Doch ich stellte bald fest, dass die Ähnlichkeit rein äußerlich war. Rain hatte nichts von einer Hellseherin, und sie hatte auch keine besonders innige Beziehung zu Xylda gehabt. Rain arbeitete in einer Fabrik und hatte es bis auf die Managementebene geschafft. Sie war stolz darauf. Sie war auch stolz darauf, eine alleinerziehende Mutter zu sein. Sie war gar nicht glücklich, dass Manfred in Xyldas und nicht in ihre Fußstapfen getreten war. Aber sie liebte ihren Sohn, hatte ihre Mutter geliebt und saß in ziemlich gedämpfter Stimmung an Manfreds Bett. »Gedämpft« bedeutete in ihrem Fall, dass sie nur fünfzig statt hundert Wörter pro Sekunde sprach.

Rain hatte das rote Haar und die sinnlichen Kurven ihrer Mutter geerbt, die bei ihr aber längst nicht so üppig ausfielen. Rain war eine ziemlich attraktive Frau, die bestimmt noch nicht ihren Vierzigsten gefeiert hatte.

Wir waren gerade bei ihnen angelangt, als der erste übliche Besucher vorbeikam. Barney Simpson wirkte ernster denn je, und ich fragte mich, ob er wohl ein Freund von Tom Almand war. Nachdem Barney seine üblichen Fragen zum Patientenkomfort und der Zufriedenheit mit der ärztlichen Behandlung hier im Krankenhaus gestellt hatte, blieb er im Zimmer. Ich überlegte, ob er Rain heimlich bewunderte, schließlich war er geschieden.

»Das mit Ihrer Mutter tut mir sehr leid«, sagte Barney zu Rain. »Sie war eine schillernde Persönlichkeit, und Sie werden sie bestimmt vermissen. Sie hat unseren kleinen Ort in der kurzen Zeit, die sie hier war, sehr beeindruckt. Man wird sich hier noch lange an sie erinnern.«

Wie unglaublich taktvoll, dachte ich. Obwohl Manfred blass und schmerzverzerrt dalag, huschte ein Lächeln über sein Gesicht.

»Ich weiß Ihre Worte sehr zu schätzen«, sagte Rain, die in punkto Höflichkeit nicht zurückstehen wollte. »Danke, dass Sie sich so gut um sie gekümmert haben. Manfred hat erzählt, Sie hätten nach ihr gesehen. Ihr Gesundheitszustand war so schlecht, dass Manfred und ich schon mit ihrem Tod gerechnet haben, wir machen dem Krankenhaus keinen Vorwurf.« Sie warf Manfred einen beschwichtigenden Blick zu, der die Augen geschlossen hatte und sich aus der Unterhaltung heraushielt.

»Manfred findet, man solle sie obduzieren«, sagte Rain. »Sie stand hier in Doraville nicht unter ärztlicher Aufsicht, in Tennessee aber natürlich schon, und sie war, kurz bevor sie nach Doraville aufbrach, bei ihrem Kardiologen gewesen. Was meinen Sie?«

In diesem Moment kam Dr. Thomason herein, sagte: »Draußen regnet es« und schüttelte seinen Schirm aus. »Nur Regen, kein Eisregen«, fügte er beruhigend hinzu.

»Gut, dass Sie da sind«, sagte Barney. »Ich werde Ihnen kurz erzählen, worüber wir gerade geredet haben.« Barney wiederholte Rains Frage. »Was meinst du, Len?«, sagte er.

»Das hängt ganz davon ab, was wir von ihrem Arzt in Tennessee erfahren«, sagte Len Thomason nachdenklich. »Wenn ihr dortiger Arzt meint, dass mit ihrem Tod zu rechnen war, dass er nicht überraschend kam und keine Rätsel aufgibt, wäre es vernünftig, keine Obduktion vornehmen zu lassen. Und genau diesen Rat würde ich dem Gerichtsmediziner auch geben. Aber«, fuhr er fort und hob beide Hände, als wolle er sagen: »Man kann nie vorsichtig genug sein«, »wenn der Arzt Zweifel hat - er kannte sie schließlich am besten -, werden wir der Sache auf den Grund gehen müssen.«

Dr. Thomason hatte sehr sachlich argumentiert, seine Worte klangen so normal und vernünftig, dass man ihm instinktiv beipflichtete. Diese Gabe musste ihm in seiner Praxis sehr zupasskommen. Ich schämte mich beinahe, dass ich ihn verdächtigt hatte, etwas mit den Morden an den Jungen zu tun zu haben. Doch als ich sah, wie er auf eine Frage Rains breit lächelnd reagierte, überfiel mich wieder die Vorstellung, wie leicht Len Thomason einen Jungen überreden konnte, ihm überallhin zu folgen. Einem Arzt vertraut jeder. Er hätte alles Mögliche sagen können, um einen jungen Mann zum Mitkommen zu bewegen. Auf Anhieb fiel mir zwar nichts ein, aber das würde bestimmt noch kommen.

Selbst Barney Simpson, der nicht gerade ein besonders heiterer Mensch zu sein schien, blühte in Dr. Thomasons Gegenwart regelrecht auf. Mir fiel wieder ein, dass er am Vorabend bei Xylda vorbeigeschaut hatte, um mit ihr zu reden. Nein, er hatte nur einen Blick zu ihr hineingeworfen und war wieder gegangen. Er hatte das Zimmer nicht einmal betreten.

Doak Garland stand auf dem Flur und betete mit irgendwelchen Angehörigen vor einem Zimmer, an dessen Tür ein Schild hing, auf dem stand: »Achtung! Hier wird mit reinem Sauerstoff gearbeitet«. Mit ihm würde auch jeder mitgehen. Er war so nett und liebenswert, so hilfsbereit und höflich.

Warum suchte ich überhaupt nach weiteren Verdächtigen? Tom Almand war verhaftet worden. Der Fall war abgeschlossen. Es war schwer vorstellbar, dass ein einzelner Mann so viel Leid über die Leute hier bringen konnte. Sogar Almands eigener Sohn hatte seinetwegen sterben müssen. Irgendwas an der ganzen Sache fühlte sich unfertig, unenthüllt an.

Ich war mir sicher, dass Tom einen Komplizen, einen Mittäter hatte.

Nachdem ich mir dies eingestanden hatte, ließ mich der Gedanke nicht mehr los. Während Tolliver mit Barney Simpson sprach und Rain mit Dr. Thomason über Manfreds Kopfverletzung redete, überlegte ich, wie ich eigentlich darauf kam. Ich hatte alles, was dafür sprach, im Kopf, als ich Manfreds Blick suchte. Ich spürte, dass Manfred in Kontakt zu mir trat. Plötzlich sagte er: »Mom.«

Überrascht drehte sich Rain zum Bett um. »Was ist, mein Schatz? Ist alles okay mit dir?«

»Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Ich werde nicht auf einer Obduktion bestehen, wenn Harper Großmutter berühren und uns erzählen darf, was sie sieht.«

Rain blickte zwischen Manfred und mir hin und her. Ihrem zusammengekniffenen Mund entnahm ich, dass ihr die Idee zuwider war. Sie hatte die Gabe ihrer Mutter nicht nur nie ernst genommen, sie hatte sie auch gehasst. »O Manfred«, sagte sie deutlich beunruhigt, »das wird nicht nötig sein. Ich bin mir sicher, dass Harper das auch gar nicht möchte.«

»Ich werde sagen können, wie sie gestorben ist«, sagte ich. »Und ich bin mit Sicherheit billiger und weniger invasiv als eine Obduktion.«

»Harper«, sagte sie und verhehlte ihre Enttäuschung nicht. Sie rang kurz mit sich, und sie tat mir leid. Abrupt wandte sie sich an Dr. Thomason. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, Doktor? Wenn sich Harper meine Mutter ... anschaut?«

»Aber nein«, sagte Dr. Thomason. »Wir Ärzte wissen schon lange, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als wir bei unserer Arbeit sehen. Wenn das Ihrem Sohn Trost spendet und Sie nichts dagegen haben ...«Er wirkte aufrichtig. Aber ein Soziopath, der Jungen umbrachte, machte bestimmt auch einen ganz normalen Eindruck. Sonst wäre man ihm längst auf die Schliche gekommen.

»Haben Sie schon etwas von dem Jungen gehört, den man nach Asheville gebracht hat?«, fragte ich.

»Ja, in der Tat.« Dr. Thomason nickte mehrmals. »Er sagt nichts, kein einziges Wort. Aber er scheint außer Lebensgefahr zu sein. Er wird wieder gesund werden. Dass er nicht spricht, hat seelische Ursachen, keine körperlichen. Seine Zunge und seine Stimmbänder sind also voll funktionsfähig und seine Lunge auch. Nun, Miss Connelly, die Leiche befindet sich in einem Bestattungsinstitut an der Hauptstraße. Ich werde gleich dort anrufen, damit man auf Ihren Besuch vorbereitet ist.«

Ich legte den Kopf schräg. Ich freute mich nicht gerade auf diese Aufgabe, wollte aber wissen, was Xylda ins Jenseits befördert hatte. So viel war ich ihr und Manfred schuldig.

»Wie lange muss Manfred Ihrer Meinung nach noch im Krankenhaus bleiben?«, fragte Rain.

Dr. Thomason, der bereits im Gehen war, drehte sich um und musterte Manfred. »Wenn seine Vitalfunktionen so bleiben, er kein Fieber bekommt oder andere beunruhigende Symptome entwickelt, dürfte er morgen entlassen werden«, sagte er. »Was ist mit Ihnen, junge Dame? Sind die Schmerzen besser geworden?«, fragte er mich plötzlich.

»Es geht mir schon viel besser, danke«, erwiderte ich. Barney Simpson hatte auf eine Gesprächspause gewartet, um sich verabschieden zu können. »Bis später«, sagte er in die Runde und verließ das Zimmer.

Vielleicht waren es die Schmerzen, vielleicht die seelische Belastung der letzten Woche, aber aus heiterem Himmel sagte Manfred: »Und, wann wird geheiratet?«

Alle verstummten. Dr. Thomason beeilte sich, das Zimmer zu verlassen, und Rain, die genauso verblüfft war wie wir, sah zwischen Tolliver und mir hin und her.

Dass Manfred nicht gerade erfreut war, hatte ich erwartet, nicht aber, dass er wütend war... Ich versuchte an die schockierenden Erlebnisse zu denken, die er in den letzten Tagen gehabt hatte. Tolliver sagte: »Wir haben noch kein Datum festgelegt« - noch so eine unpassende Bemerkung.

Jetzt war ich auf alle wütend. Rain stand der Mund offen, Manfred schmollte, und Tolliver war wirklich stinksauer.

»Es tut mir leid«, sagte Rain mit brüchiger Stimme. »Ich dachte, Sie seien Bruder und Schwester. Da muss ich wohl was falsch verstanden haben.«

Ich holte tief Luft. »Wir sind nicht miteinander verwandt, aber wir sind zusammen aufgewachsen, seit wir Teenager waren«, sagte ich und versuchte dabei so freundlich und gelassen wie möglich zu klingen. »Manfred wird müde sein. Wir gehen jetzt kurz zum Bestattungsinstitut.«

»In Ordnung«, sagte Rain. Sie wirkte verwirrt, aber das war nur verständlich.

Als wir das Krankenhaus verließen, sagte Tolliver: »Lass dir von ihm keine Angst einjagen, Harper.«

»Du meinst, nur weil Manfred das Wort ›heiraten‹ in den Mund nimmt, bekomme ich es mit der Angst?« Ich lachte, aber sehr heiter klang das nicht. »Es geht uns gut, wir müssen keine überstürzten Entscheidungen treffen, und das wissen wir auch, stimmt's?«

»Stimmt genau«, sagte er mit fester Stimme. »Wir haben alle Zeit der Welt.«

Diesbezüglich war ich mir nicht ganz so sicher, da ich viel Zeit mit Leuten verbringe, die vom Tod überrascht werden. Aber im Moment ließ ich das lieber auf sich beruhen.

Das Bestattungsinstitut war einer von diesen einstöckigen Ziegelbauten mit einem Parkplatz, der sich nur allzu bald füllen würde. Ich bin schon in Hunderten von Bestattungsinstituten gewesen, da sich viele erst in letzter Minute dazu durchringen können, mich zu engagieren. Bestimmt war es eines von der Sorte mit zwei Aufbahrungsräumen. Nachdem wir den Empfangsraum betreten hatten, konnte ich mich davon überzeugen, dass zwei Türen von diesem abgingen. Vor jeder stand ein Pult mit einem Kondolenzbuch. Ein Schild auf einem Ständer - eines mit weißen Lettern, die man in schwarzes, filzartiges Material steckte - gab an, dass der Aufbahrungsraum zu unserer Rechten James O. Burris enthielt. Der Linke war leer. Rechts und links waren noch weitere Zimmer, eines davon gehörte bestimmt dem Inhaber. Das andere dem Mitinhaber oder Assistenten, vielleicht diente es auch als kleiner Empfangsraum für die Hinterbliebenen.

Und da kam auch schon die Inhaberin des Bestattungsinstituts, eine etwa fünfzigjährige Frau mit mütterlichen Rundungen. Sie trug einen Hosenanzug und bequeme Schuhe, und ihre Frisur und ihr Make-up waren auch eher von der bequemen Sorte.

»Hallo«, sagte sie mit einem gedämpften Lächeln, das typisch für ihre Zunft sein musste. »Sie sind Ms Connelly?«

»Ja.«

»Sie sind also gekommen, um sich die sterblichen Überreste von Mrs Bernardo anzusehen?«

»Ja.«

»Tolliver Lang«, sagte Tolliver und gab ihr die Hand.

»Cleda Humphrey«, sagte sie und schüttelte sie herzlich. Sie führte uns durch einen langen Mittelgang in den hinteren Teil des Hauses. Es gab eine Hintertür, die sie aufschloss, und wir folgten ihr über einen winzigen Parkplatz in ein großes Gebäude, eine hübsche Halle mit Ziegelwänden, die zum Vorderhaus passten. »Mrs Bernardo ist hier hinten, weil sie nicht bei uns beerdigt wird«, sagte sie. »Solche vorübergehenden Gäste bewahren wir in einem Übergangsraum auf.«

Der »Übergangsraum« war Cleda Humphreys Umschreibung für »Kühlraum«. Sie öffnete eine glänzende Edelstahltür, aus der ein kalter Lufthauch kam. In einem schwarzen Leichensack lag Xylda auf einer Rollbahre. »Sie hat immer noch ihr Krankenhausnachthemd an, auch die Infusionsschläuche sind noch dran, bis feststeht, ob sie obduziert wird oder nicht«, sagte die Inhaberin des Bestattungsinstituts.

Mist, dachte ich. Tollivers Züge verhärteten sich. »Aber ihre Seele hat sich zum Glück schon verflüchtigt«, sagte ich. Ich hätte mich ohrfeigen können, als ich merkte, dass ich laut gedacht hatte.

»Oh«, sagte die fröhliche, mütterlich wirkende Frau. »Sie sehen sie also auch.«

»Ja«, sagte ich aufrichtig überrascht.

»Ich dachte schon, ich bin die Einzige.«

»Viele von uns gibt es bestimmt nicht«, meinte ich. »Hilft Ihnen das bei Ihrem Job?«

»Wenn sie sich verflüchtigt haben, wie es sich gehört, schon«, sagte Cleda. »Und wenn ich merke, dass noch eine da ist, versuche ich den Pfarrer des Verstorbenen zu erreichen, damit er ein Gebet spricht. Manchmal hilft das.«

»Das muss ich mir merken«, sagte ich leise. »Na gut, dann mache ich mich mal an die Arbeit.« Ich schloss die Augen. Notwendig war das nicht, aber es half. Um ein möglichst genaues Bild zu bekommen, legte ich meine Hand auf den Leichensack. Ich spürte den kalten Körper darin.

Ich fühle mich so schlecht, ich bin so müde... Wo ist Manfred? Was will dieser Mann hier? Er sieht mich an. Ich bin so müde... schlafen.

Ich riss die Augen auf und blickte in die neugierigen blauen Augen der Bestattungsunternehmerin.

»Ein natürlicher Tod«, sagte ich. Wenn man einfach nur dasteht und zusieht, ist das kein Mord. Ich spürte keinerlei Berührungen, keinerlei Körperkontakt. Irgendjemand, irgendein Mann hatte Xylda kurz vor ihrem Tod beobachtet, aber das war nicht weiter verwunderlich. Das konnte der Arzt oder ein Pfleger gewesen sein. Es gab keine Möglichkeit, das herauszufinden. Trotzdem war es ein gruseliges Bild, das ich vor Augen hatte. Jemand hatte ruhig und teilnahmslos zugesehen, wie Xylda starb. Er hatte das Sterben nicht beschleunigt, aber auch nicht verhindert.

»Oh, gut«, sagte Cleda. »Die Hinterbliebenen sind bestimmt froh, das zu hören.«

Ich nickte.

Der schwarze Leichensack verschwand wieder im Übergangsraum.

Betrübt gingen wir wieder über den Parkplatz und durch den Gang zurück in den Empfangsraum des Bestattungsinstituts.

»Sie dürfen sich wahrscheinlich auf jede Menge Aufträge gefasst machen«, sagte Tolliver. »Wenn die Leichen der... der jungen Männer erst mal freigegeben wurden... « Ich hätte erwartet, dass er »Opfer« sagen würde.

»Da kommt viel Arbeit auf uns zu, Sir« bestätigte sie. »Einer der Jungen war mein Neffe. Seine Mutter, die Frau meines Bruders, wollte heute Morgen gar nicht aufstehen. Es wäre schon schlimm genug, zu erfahren, dass ihn jemand entführt und ermordet hat. Aber zu wissen, dass er noch so lange gelebt hat und gefoltert wurde, dass man ihn auf so eine widernatürliche Weise benutzt hat... dieser Gedanke bringt sie um.«

Hier war keinerlei Entgegnung hilfreich, Cleda hatte schlichtweg recht. Zu wissen, dass dem eigenen Kind Schnitt- und Brandwunden zugefügt worden waren, dass man es vergewaltigt hatte, machte seinen Tod tatsächlich noch schlimmer, und man konnte nichts dagegen tun. Ich hatte stets die Vorstellung, dass meine Schwester Cameron vergewaltigt wurde, bevor man sie umgebracht hat, Beweise dafür hatte ich jedoch nicht. Allein die Vorstellung war schlimm genug. Ich fand den Akt an sich widernatürlich, und zwar unabhängig vom Geschlecht des Opfers. Aber in diesem Moment wollte ich das nicht diskutieren.

»Unser aufrichtiges Beileid«, sagte ich.

»Danke«, sagte Cleda Humphrey würdevoll, und wir fanden den Weg selbst hinaus.

»Sie war unglaublich freundlich«, sagte Tolliver, als wir in den Wagen stiegen. »Sie ist die entspannteste Bestatterin, mit der wir es je zu tun hatten.«

Er hatte recht. »Sie ist ziemlich locker mit uns fertiggeworden«, sagte ich.

»Eine nette Abwechslung.«

Ich nickte.

Als Tolliver den Zündschlüssel ins Schloss steckte, kam Pfarrer Doak Garland in seinem bescheidenen Chevrolet auf den Parkplatz gefahren. Er näherte sich dem Wagen, also drehte Tolliver den Autoschlüssel wieder in die andere Richtung und ließ das Fenster herunter.

»Hallo«, sagte Doak und beugte sich zu uns.

»Was führt Sie hierher?«, fragte ich und hoffte, er würde uns nicht zu unserem Besuch im Bestattungsunternehmen befragen.

»Nun, eine der Leichen wird schon morgen freigegeben, es handelt sich um die von Jeff McGraw. Deshalb wollte ich mit Cleda über den Gottesdienst sprechen. Ich glaube, wir brauchen zusätzlich Polizei, um den Verkehr zu regeln, ich war deswegen schon bei Sheriff Rockwell auf dem Revier. Und Cleda muss auf eine zusätzliche Totenwache vorbereitet werden.«

»Das wird eine anstrengende Zeit für Sie«, sagte Tolliver. »Es kommen jede Menge Trauergottesdienste auf Sie zu.«

»Nun, ich war nicht der Pfarrer von all diesen Jungen«, sagte Doak mit einem freundlichen Lächeln. »Aber zu jeder Beerdigung wird die ganze Gemeinde kommen, wir müssen uns also alle auf harte Zeiten gefasst machen. Aber vielleicht ist das nur gerecht. Wie konnte das nur mitten unter uns passieren, ohne dass wir irgendwas bemerkt haben?«

Diese Frage war mir eine Nummer zu groß. »Ist das nicht eine Frage für Abe ... äh ... Madden, den früheren Sheriff?«, sagte ich. »Ist er nicht mit dafür verantwortlich, weil er suggerierte, es handele sich bei den Jungen um Ausreißer und nicht um gefährdete Vermisste? Bei dem Gedenkgottesdienst neulich schien er einen Teil der Verantwortung auf sich nehmen zu wollen.«

Doak Garland wirkte überrascht. »Wir sollten lieber nicht mit dem Finger auf andere zeigen«, sagte er wenig überzeugend. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er nicht zum ersten Mal über Abe Maddens Rolle in diesem Drama nachdachte. »Glauben Sie wirklich, dass das etwas ausgemacht hat?«, sagte er.

»Natürlich«, erwiderte ich überrascht. Ich kannte Abe Madden nicht, ich musste keine Rücksicht auf seine Gefühle oder seinen Ruf nehmen. »Wenn er sich nach dem Verschwinden der Jungen wirklich so verhalten hat, wie es mir beschrieben wurde, hat das natürlich etwas ausgemacht. Hätte man früher mit den Ermittlungen begonnen, würden hier noch mehr Kinder herumlaufen.«

»Aber wenn man ihm die Schuld daran gibt, macht es die Sache dann einfacher?«, fragte Doak, aber es war eine rhetorische Frage.

Ich beschloss, sie wörtlich zu nehmen. »Ja, für alle außer für Abe Madden«, sagte ich. »Es hilft den Menschen, Schuld zuweisen zu können, zumindest ist das meine Erfahrung. Und wenn man ein Verhalten korrigieren kann, das mit für das Problem verantwortlich ist, wird es sich vielleicht nicht wiederholen.« Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht, aber vielleicht auch nicht.«

Zu Doak Garlands Verteidigung muss ich sagen, dass er daraufhin keine Plattitüde von sich gab wie so viele Geistliche. Er dachte ernsthaft über meine Worte nach. »Da ist was dran«, sagte er. »Aber mal ehrlich, Ms Connelly, das bedeutet doch nur, einen Sündenbock für alle unsere Sünden zu finden.«

Jetzt wurde ich nachdenklich. »Gut, da ist auch was dran«, gab ich zu. »Aber in diesem Fall hat sich wirklich jemand schuldig gemacht, und der frühere Sheriff sollte wenigstens einen Teil der Schuld auf sich nehmen.«

»Was er auch getan hat«, sagte Doak Garland. »Vielleicht sollte ich mal bei ihm vorbeischauen. Unter Umständen denkt er ganz ähnlich wie Sie.«

Ich überlegte, ob der Pfarrer mir jetzt auch Schuldgefühle einreden wollte, aber ich empfand keine. Ich möchte niemanden in Angst und Depressionen stürzen, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man die Verantwortung für sein Handeln übernehmen muss, wenn man sich weiterentwickeln will.

Wir schienen uns nichts mehr zu sagen zu haben, und ich sah Tolliver fragend an. Der sagte: »Herr Pfarrer, wir müssen los.« Ohne ein weiteres Wort ließen wir die Fenster nach oben surren und verließen den Parkplatz.

»Wohin jetzt?«, fragte Tolliver. »Ich meine, ich kann auch ziellos durch die Gegend fahren, aber da es hier immer noch Eisplatten gibt...«

»Ich habe Hunger und du?«, sagte ich. Dagegen ließ sich leicht etwas unternehmen. Die meisten Geschäfte in Doraville hatten wieder geöffnet, und die Leute gingen wieder ihrem Alltag nach. Sie wirkten erleichtert, und ich war es auch. Bald würden wir von hier wegkommen.

»Was, wenn wir einfach fahren?«, sagte Tolliver. »Wir könnten in einer Stunde auf der Autobahn und auf dem Heimweg sein. Wir hätten die Auswahl zwischen zwanzig Restaurants.«

Die Versuchung war groß, denn wir standen wieder auf dem McDonald's-Parkplatz. Ich starrte auf die goldenen Bögen und versuchte, nicht in Resignation zu verfallen.

»Wir müssen den Schlüssel zurückgeben«, sagte ich zögernd.

»Ja, aber das verzögert unsere Abreise um höchstens fünf Minuten.

»Und Manfred und seiner Mutter müssen wir noch Bescheid sagen, wie Xylda gestorben ist. Und wird man uns überhaupt fahren lassen?«

»Wer ist ›man‹? Die SBI-Jungs? Oder Sandra Rockwell?«

»Zum Beispiel.«

»Was könnten die noch von uns wollen?«

»Wir haben zu den gestrigen Vorfällen noch keine Zeugenaussage gemacht.«

»Stimmt. Kann sein, dass wir dafür noch eine Dreiviertelstunde aufs Revier müssen. Okay, holen wir uns einen Burger und sehen wir zu, dass wir hier fertig werden.«

Ich wollte auch dringend hier weg, doch irgendetwas nagte an mir. Aber ich war schließlich keine Polizistin, redete ich mir wiederholt ein, und somit nicht verantwortlich. Andererseits: Wenn ich einen Verdacht hatte, sollte ich das vielleicht an geeigneter Stelle erwähnen.

Ich hatte kaum richtig wahrgenommen, dass ich mit Tolliver bereits in der Schlange stand. Ich durfte ihn jetzt nicht mehr als meinen Bruder betrachten, über dieses Stadium waren wir weit hinaus. Mir fiel ein, dass ich ihn in der Öffentlichkeit berühren durfte - jetzt, wo er wusste, was ich empfand. Er empfand genauso. Ich musste meine Gefühle nicht mehr verstecken. Es war schrecklich, wie sehr ich mir angewöhnt hatte, auf Distanz zu gehen, ihn nicht zu berühren, ihn nicht anzusehen - aus lauter Angst, ihn zu verlieren, wenn er merkte, dass ich ihn liebte. Seit dem Eissturm konnte ich ihn ansehen, sooft ich wollte, und er würde es genießen.

»Weißt du noch, wie wir uns gestern über das unterhalten haben, was Xylda in Memphis gesagt hat? Dass wir in der Eiszeit glücklich sein werden?«, fragte ich.

»Ja, das hat sie gesagt. Wir haben uns auch darauf geeinigt, dass Xylda keine Betrügerin war, zumindest nicht immer.«

»Je älter sie wurde, desto näher an der Wahrheit war sie«, sagte ich.

»Ich frage mich, ob Rain das jemals einsehen wird.«

»Rain will einfach nur normal leben«, sagte ich. »Wenn ich mit Xylda, ihren Launen und spirituellen Eingebungen aufgewachsen wäre, ginge es mir wahrscheinlich ganz genauso.«

»Die Umstände, unter denen wir aufgewachsen sind, waren noch schlimmer.«

Damit hatte er auch wieder recht. Von Xylda erzogen zu werden, war der reinste Klacks im Vergleich zu unserer Wohnwagen-Kindheit in Texarkana.

Als ich allein an unserem Tisch darauf wartete, dass Tolliver unsere Bestellung brachte, musste ich wieder an das Opfer denken, das Chuck Almand gebracht hatte. Ich versuchte mir sein rätselhaftes Benehmen zu erklären.

Tolliver stellte das Tablett auf den Tisch, und ich nahm mein Essen herunter. Das konnte ich wenigstens problemlos einhändig zu mir nehmen. Ohne zu fragen, riss Tolliver drei Ketchuptütchen für mich auf und drückte ihren Inhalt auf meine Pommes.

»Danke«, sagte ich und grübelte weiter. Aber das war nicht der richtige Ort, um Tolliver zu sagen, was mich bedrückte - nicht hier, wo sich alle Einwohner von Doraville, die nicht zur Schule gingen oder arbeiteten, versammelten, um Krankheitskeime auszutauschen und ungesunde Nahrung zu sich zu nehmen. Ich verlor schnell den Appetit und stapelte meine Überreste auf das Tablett.

»Was ist?«, fragte Tolliver besorgt, aber nicht ohne einen ängstlichen, vielleicht sogar gereizten Unterton. Er wollte schleunigst von hier weg. Doraville war ihm unheimlich, und von den Morden an den jungen Männern bekam er Albträume.

»Wenn wir hier fertig sind, möchte ich noch mal zurück an den Tatort«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid«, fügte ich hinzu, als ich seinen Gesichtsausdruck sah, »aber ich muss einfach.«

»Wir haben die Leichen gefunden«, sagte er so leise wie möglich. »Wir haben getan, was von uns verlangt wurde. Wir haben unser Geld.«

Wir waren nur selten anderer Meinung oder beharrten dermaßen stur darauf. Mir war ganz elend.

»Es tut mir leid«, sagte ich erneut. »Können wir bitte gehen und das in Ruhe besprechen?«

Wir schwiegen angespannt, während Tolliver den Abfall in die dafür vorgesehenen Behälter warf und das Tablett obenauf knallte. Er hielt mir im Hinausgehen die Tür auf, öffnete den Wagen und setzte sich selbstverständlich hinters Steuer - allerdings ohne den Motor anzulassen. Er saß einfach nur da und wartete auf eine Erklärung. So was machte er eigentlich nie. Normalerweise machte er, was ich wollte. Aber jetzt hatte sich unsere Beziehung grundlegend geändert, und wir mussten ein neues Gleichgewicht finden. Jetzt musste ich Erklärungen abgeben, was ich auch akzeptierte. Es war schließlich nicht nur angenehm gewesen, immer allein zu entscheiden. Ich hatte mich nur ein bisschen zu sehr daran gewöhnt.

Früher hätte ich einfach gesagt, dass ich noch mal zum Tatort muss, und er hätte mich hingefahren, ohne Fragen zu stellen. Zumindest meistens. Ich zog mein linkes Bein auf den Sitz und lehnte meinen Rücken an die Beifahrertür. Er wartete.

»Folgendes.« Ich holte tief Luft. »In der Version, die wir uns bisher zurechtgelegt haben, hat Chuck seinem Dad geholfen, die Jungen zu bewachen. Sein Dad führte ihn in die Familientradition ein und zeigte ihm, wie man Katzen, Hunde und andere Kleintiere tötet, damit aus Chuck eines Tages genauso ein geschickter Serienmörder würde wie Papa Tom es war.«

Tolliver nickte.

»Aber das stimmt so nicht«, sagte ich. »Wenn wir davon ausgehen, dass mindestens zwei Leute nötig waren, um die Jungs zu überwältigen und unter Kontrolle zu halten...«

»Gacy war allein«, sagte Tolliver.

Das stimmte. Der Serienmörder John Wayne Gacy hatte im Raum Chicago Jungen gefoltert und umgebracht, und zwar ganz allein. Und auf den Fotos, die ich von ihm gesehen hatte, hatte er nicht besonders kräftig ausgesehen. »Er hat sie dazu überredet, sich Handschellen anlegen zu lassen, stimmt's?«, sagte ich. »Er hat ihnen weisgemacht, es seien manipulierte Handschellen, und er würde ihnen zeigen, wie man sich daraus befreit. Nur dass es echte Handschellen waren.«

»Ich glaube schon.«

»Er hat also einen Trick benutzt, dasselbe könnte Tom auch getan haben«, sagte ich.

»Dahmer war auch allein.«

»Ja.«

»Deine Überlegungen überzeugen mich also nicht.«

»Ich glaube trotzdem, dass sie zu zweit waren.« Zu zweit wäre es wesentlich leichter, einen gesunden männlichen Teenager zu überwältigen. Vielleicht waren die Jungen auch deswegen länger am Leben gelassen worden, damit sich zwei Männer mit ihnen vergnügen konnten, jeder auf seine Art und Weise. »Vielleicht stand einer auf Sex, der andere auf Folter oder jeder von ihnen auf eine spezielle Kombination aus beidem. Vielleicht genoss einer auch nur das Sterben. Es gibt so Leute. Deshalb ließ man vielleicht die Jungen noch eine Weile am Leben, denn dass es so war, steht fest. Die Mörder konnten also gleich viel Zeit mit ihnen verbringen.«

»Bist du sicher?«

»Vielleicht nicht zu hundert Prozent, aber ziemlich sicher.«

»Wie kommst du darauf?«

»Vielleicht hat es was mit den Gräbern der Jungen zu tun. Vielleicht bilde ich mir das aber auch bloß ein.«

»Da war also Chuck. Und Tom hat Chuck dazu gezwungen, ihm zu helfen.«

»Nein, das glaube ich nicht. Das wollte ich dir ja gerade erklären, bevor wir über Gacy und Dahmer gesprochen haben. Die Tierleichen waren nämlich noch sehr frisch. Aber die Jungs verschwinden seit mehr oder weniger fünf Jahren. Nun, von den Tieren war keines länger als ein Jahr tot, so wie die aussahen. Die Sommer hier sind warm, es gibt jede Menge Insekten.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Toms Helfer war nicht Chuck, sondern jemand anders, jemand, der noch auf freiem Fuß ist.«

Tolliver sah mich völlig ausdruckslos an. Ich hatte keine Ahnung, was in seinem Kopf vorging oder ob er mich verstanden hatte. Ich machte eine ungeduldige Geste. »Was ist?«, fragte ich.

»Ich denke nach«, sagte er. Zwischenzeitlich ließ er den Motor an - eine gute Idee, weil es ziemlich kühl war. Schließlich sagte er: »Und was sollen wir jetzt machen?«

»Keine Ahnung«, erwiderte ich. »Ich muss zu Manfred und ihm sagen, dass seine Großmutter von allein gestorben ist. Obwohl jemand anwesend war, der nichts dagegen unternommen hat.«

»Wie bitte?«

»Jemand hat ihr beim Sterben zugesehen. Jemand hat keine Hilfe geholt. Viel hätte das wahrscheinlich auch nicht mehr gebracht, trotzdem...« Ich schüttelte den Kopf. »Das ist einfach unheimlich. Sie wusste, dass jemand da steht und zuschaut.«

»Ihr nichts tut. Aber ihr auch nicht hilft.«

»Ja«, sagte ich, »jemand, der bloß zusieht.«

»Könnte das Manfred gewesen sein?«

Ich überlegte. Das war gar nicht unwahrscheinlich. Manfred hatte in dem Moment vielleicht nicht realisiert, dass Xylda starb. »Nein«, sagte ich jedoch widerstrebend, nachdem ich mir die Kontaktaufnahme zu Xyldas Sterbeminuten im Kühlraum des Bestattungsinstituts noch einmal vergegenwärtigt hatte. »Nein, das war nicht Manfred. Denn das würde bedeuten, dass Xylda ihren eigenen Enkel nicht mehr erkannt hätte, und so verwirrt hatte sie nicht gewirkt, als ich Kontakt zu ihr aufnahm.«

Tolliver setzte mich vor dem Krankenhaus ab und fuhr kurz tanken. Ich schlenderte durch die Flure, als gehörte ich zum Personal. Als ich in Manfreds Zimmer kam, stellte ich fest, dass er allein war. Ich versuchte, nicht allzu erleichtert zu wirken - Rain war sicherlich sehr nett, aber sie war auch sehr anstrengend -, trat an sein Bett und nahm seine Hand. Manfred riss die Augen auf und machte Anstalten, gleich loszuschreien.

»Gott sei Dank, du bist es«, sagte er, als er begriff, wer ich war. »Was hast du herausgefunden?«

»Deine Großmutter ist eines natürlichen Todes gestorben«, sagte ich. »Weißt du vielleicht noch, ob du in der Tür zu ihrem Zimmer gestanden und sie länger angesehen hast?«

»Nein, ich bin immer gleich reingegangen und habe mich zu ihr ans Bett gesetzt. Warum?« »Als sie starb, stand jemand in der Tür und beobachtete sie.«

»Hat derjenige ihr Angst gemacht?«

»Nicht unbedingt. Nur überrascht. Aber das hat sie nicht umgebracht. Sie lag bereits im Sterben.«

»Und du bist dir ganz sicher?« Manfred wusste nicht, was er mit dieser lückenhaften Information anfangen sollte. Mir ging es ganz genauso.

»Ja, sie ist eines natürlichen Todes gestorben.«

»Da bin ich aber froh«, sagte er zutiefst erleichtert. »Vielen Dank, Harper.« Er nahm meine Hand. »Danke, dass du das für mich getan hast. Das war bestimmt nicht einfach für dich. Aber jetzt können wir auf eine Obduktion verzichten, und sie kann in Frieden ruhen.«

Dass Xylda in Frieden ruhte, war völlig unabhängig von irgendwelchen Obduktionen, aber ich ließ das Thema lieber eines natürlichen Todes sterben, genau wie Xylda.

»Hör mir gut zu«, sagte ich. Seine Züge verhärteten sich, weil meine Stimme so ernst klang.

»Ich höre«, sagte er.

»Du solltest hier nicht allein herumspazieren. Nicht in Doraville.«

»Aber der Typ wurde verhaftet«, sagte Manfred. »Es ist vorbei.«

»Nein«, sagte ich. »Das glaube ich nicht. Ich glaube zwar nicht, dass man dich aus dem Krankenhaus entführen wird, aber wenn man dich entlässt, weiche deiner Mutter nicht von der Seite!«

Er begriff, dass ich es wirklich ernst meinte, und nickte. Widerstrebend, aber er nickte.

Und dann kam die Krankenschwester ins Zimmer und meinte, es sei jetzt Zeit für seine Gehübungen. Ich musste vor dem Krankenhaus auf Tolliver warten.

Barney Simpson strebte mit einem Stapel Papiere unterm Arm ebenfalls auf den Ausgang zu, sodass ich zufällig neben ihm landete.

»Ich dachte immer, Krankenhausverwalter sind an ihren Schreibtisch gekettet«, sagte ich. »Aber Sie sind ständig unterwegs.«

»Wenn meine Sekretärin da wäre, wäre ich auch überwiegend in meinem Büro«, pflichtete mir Simpson bei. »Aber sie hat frei. Einer der vermissten Jungen war ihr Enkel. Und da es noch etwas dauern wird, bevor sie den Jungen beerdigen können, hielt ich es für angebracht, ihr ein, zwei Tage Urlaub zu geben, damit sie ihrer Tochter beistehen kann.«

»Es tut mir wirklich sehr leid für die vielen Familien.«

»Nun, wenigstens eine Familie kann sich freuen. Die Verwandten des Jungen, der unter dem Stall war, werden heute sicher feiern.«

Er nickte mir zu und verschwand in einem kleineren Flur, von dem mehrere Büros abgingen. Alle in Doraville waren von diesen Verbrechen betroffen, auch wenn die Betroffenheit sicherlich mit zunehmender emotionaler Entfernung von Ground Zero nachließ - jenem Todesfeld oberhalb der Stadt.

Jetzt schämte ich mich fast ein bisschen, Manfred gewarnt zu haben. Er war älter als diese Jungen. Aber er war klein und attraktiv und im Moment ziemlich verletzlich. Außerdem war er ein Fremder, jemand, den man nicht so rasch vermissen würde wie einen einheimischen Jungen. Aber das war Quatsch, denn wenn man logisch dachte, war es so gut wie unmöglich, dass der zweite Mörder - ein Mörder, der nur mir Sorgen zu machen schien - sich noch einen Jungen holen würde. Alle waren wachsam, alle waren vorsichtig, ein jeder war misstrauisch. Gewesen. Jetzt sah die Sache schon wieder anders aus. Der Bösewicht saß im Gefängnis, sein armer Sohn war tot, das letzte Opfer lag im Krankenhaus und würde überleben. Ein Happy End sozusagen. Und wenn man den Leuten glaubte, waren sie nicht mal besonders traurig über den Tod des armen Chuck. Alle nahmen an, dass er seinem Vater mit den Jungen hatte helfen müssen und dass er sich aufgrund seiner Schuldgefühle geopfert hatte. Vielleicht hatte er auf diese Weise Vergebung gefunden.

Doch für mich war das nur ein Teil der Wahrheit.

Und wenn Chuck noch leben würde, wäre sein Leben keinen Penny mehr wert. Der Mittäter seines Vaters würde nämlich vermuten, dass Chuck über seine Identität Bescheid wüsste, selbst wenn das vielleicht gar nicht der Fall war. Irgendjemand war also überglücklich, dass Chuck tot war, und hatte gute Gründe dafür.

Ich dachte an all das Schöne, das ich in Doraville erlebt hatte, an die netten Menschen, die ich kennengelernt hatte. In diesem hübschen Bergdorf versteckte sich eine Schlange im hohen Gras, eine ziemlich fette Schlange. Doraville hatte diese schrecklichen Vorfälle nicht verdient.

Als Tolliver vor mir hielt, stieg ich in den Wagen und er fuhr mich wortlos zu Daveys alter Farm, der Stätte so vieler kühler Gräber.

Klavin und Stuart waren auch dort oben, und diesmal war ich ausnahmsweise froh über ihre Anwesenheit. Sie vermaßen das Grundstück und machten noch mehr Fotos von dem Gebäude, der Straße, dem gesamten Gelände und allem, was ihnen sonst noch einfiel.

Sie waren beschäftigt und wollten nicht mit uns reden. Jeder von uns tat so, als seien die anderen gar nicht da. Hier oben wehte der Wind, und es war kühl, auch wenn die strahlende Sonne ein wenig Wärme spendete. Ich hatte meine dicke Jacke weggelassen und einen blauen Kapuzenpulli angezogen. Die Kapuze hatte ich aufgesetzt und die Hände in die Taschen gesteckt. Tolliver legte den Arm um mich und küsste mich auf die Wange.

Wie auf ein Signal hin kamen die beiden SBIler auf uns zu.

»Haben Sie wegen gestern auf dem Revier schon Ihre Zeugenaussage gemacht?«, fragte Klavin.

»Nein. Das machen wir, bevor wir die Stadt verlassen. Wir haben nur noch eine Frage und wollten wissen, ob Sie eine Antwort darauf geben können«, sagte ich. »Ich nehme an, es wird noch eine Weile dauern, bis die Untersuchungen an den armen Jungen abgeschlossen sind.«

Stuart nickte. »Was möchten Sie wissen?«, fragte er. »Da Sie sie gefunden haben, dürften Sie das Recht auf ein, zwei Antworten haben.«

Eine gesunde Einstellung, die Klavin allerdings nicht zu teilen schien.

»Ich möchte wissen, ob sie etwas zu essen bekommen haben und versorgt wurden, nachdem man sie entführt hatte«, sagte ich. »Vielleicht hat man sie betäubt. Ich möchte wissen, ob man sie bewusst am Leben erhalten hat.«

Beide Beamten erstarrten. Klavin war mit einer winzigen Digitalkamera beschäftigt gewesen, während Stuart ein kleines Gerät auf den Rücksitz ihres gemieteten Geländewagens gelegt hatte. »Warum?«, fragte Stuart, nachdem sie sich wieder gefasst hatten. »Warum möchten Sie das wissen, Ms Connelly?«

»Ich frage mich, ob mehr als eine Person an den Folterungen dieser Jungen beteiligt war«, sagte ich. »Ich habe nämlich den dringenden Verdacht, dass Tom Almand nicht alleine war, dass er einen Mittäter hatte, der ihm half, die Jungen zu überwältigen. Wie Sie wissen, waren einige sehr groß. Tom Almand ist ein kleiner Mann. Hat er sie mit irgendeiner Geschichte in eine unentrinnbare Falle gelockt? Oder hatte er eine sehr kräftige rechte Hand, die dafür gesorgt hat?«

Die beiden Männer sahen einander vielsagend an.

»Sie müssen die Leute warnen«, sagte ich. »Alle denken, sie seien jetzt in Sicherheit, aber das stimmt nicht.«

»Hören Sie, Ms Connelly«, sagte Stuart. »Die Hälfte des Verbrecherteams sitzt im Gefängnis. Wir kennen den Tatort. Wir wissen, wo sie die Leichen beseitigt haben. Wir haben einen Überlebenden, der in Sicherheit gebracht wurde und bewacht wird. Wir kennen sogar ihr zweites Versteck, das sie sich aus irgendeinem Grund noch zusätzlich angelegt haben: vielleicht für den Fall, dass dieses Grundstück hier verkauft wird. Vielleicht haben sie auch festgestellt, dass die Straße hier im Winter schwer befahrbar ist. In dieser Zeit haben sie das zweite Versteck in der Almand-Scheune benutzt. Wir vermuten das, da wir in der Scheune längst nicht so viel Blut gefunden haben. Dort gibt es auch nicht so viele Requisiten wie hier.« Er wies mit dem Kinn auf den alten Schuppen links vom Haus der Daveys.

»Wir wollen diesen anderen Mistkerl unbedingt kriegen, Harper«, sagte Klavin. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr. Aber wir glauben nicht, dass er sich so bald ein neues Opfer suchen wird. Verstehen Sie, was wir damit sagen wollen?«

Nein, dafür war ich zu doof. »Ja«, sagte ich, »ich verstehe. Im Grunde sehe ich das ganz ähnlich. Es wäre Wahnsinn, wenn er sich jetzt noch jemanden schnappen würde. Aber verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will? Der Typ ist ein Wahnsinniger.«

»Aber bisher hat er es stets geschafft, eine perfekte Fassade aufrechtzuerhalten«, sagte Stuart. »Er ist schlau genug, schon aus reinem Selbstschutz so weiterzumachen wie bisher.«

»Sind Sie sich da wirklich sicher? Sicher genug, um nicht das Leben eines weiteren Jungen aufs Spiel zu setzen?«

»Hören Sie, im Grunde haben Sie nichts mit unseren Ermittlungen zu schaffen«, sagte Klavin. Seine Geduld war am Ende.

»Ich weiß, dass ich keine Polizistin bin«, sagte ich. »Normalerweise komme ich in eine Stadt, erledige meinen Job und fahre wieder weg. Und ich bin froh darüber. Wenn ich bleiben muss, passieren nur noch furchtbarere Dinge. Und dann müssen wir noch länger bleiben. Wir möchten Doraville gern verlassen. Aber wir möchten nicht, dass noch jemand stirbt. Und bevor Sie den anderen Mörder nicht gefasst haben, könnte genau das passieren.«

»Aber was können Sie dagegen tun?«, fragte Klavin nicht ganz zu Unrecht. »Von uns aus können Sie und Ihr Bruder nach Ihrer Zeugenaussage fahren. Wir haben Ihre Handynummer und Ihre Adresse.«

»Er ist nicht mein Bruder«, sagte ich. Wenn Tolliver das sagen konnte, konnte ich es auch.

»Egal«, sagte Klavin. »He, Lang, wussten Sie schon, dass Ihr Vater in Arizona im Gefängnis sitzt?«

»Nein«, sagte Tolliver. »Ich weiß nur, dass er aus dem Knast in Texas raus ist.« Wenn sie Tolliver damit hatten provozieren wollen, war es ihnen nicht gelungen.

»Sie beide hatten wirklich Pech mit Ihren Eltern«, sagte Klavin.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte ich. Mich konnte er auch nicht provozieren.

Er wirkte überrascht, vielleicht war er sogar ein wenig enttäuscht.

»Ich werde einfach nicht schlau aus Ihnen«, sagte ich. »Sie können höflich sein, wenn Sie wollen. Aber dieser Mist über unsere Eltern - meinen Sie wirklich, wir hören das zum ersten Mal? Meinen Sie, wir wissen nicht mehr, wie das war?«

Er hatte nicht erwartet, dass ich so direkt werden würde. Klavin hatte eindeutig selbst Probleme.

»Zischen Sie ab«, sagte er, während Stuart ihn nicht aus den Augen ließ. »Fahren Sie zurück in die Stadt. Machen Sie Ihre Zeugenaussage und hauen Sie ab. Dieser Fall ist auch so schon chaotisch genug. Erst die Hellseherin. Dann Sie. Jetzt, wo Sie gesehen haben, wie Tom Almand die Schaufel geschwungen hat, wissen Sie auch, wer Sie angegriffen hat. Werden Sie Anzeige erstatten?«

Komischerweise hatte ich daran noch gar nicht gedacht. Seitdem man mich angegriffen hatte, war so viel passiert, dass das fast unwichtig geworden war. Ich dachte kurz darüber nach. Theoretisch war ich sehr dafür, dass Tom für seinen Angriff auf mich bezahlen musste. Aber wenn man realistisch blieb - wie wollten wir beweisen, dass es wirklich Tom gewesen war? Gegen ihn sprach nur, dass er beobachtet worden war, wie er jemanden mit einer Schaufel angegriffen hatte. Und dass er gute Gründe dafür gehabt hätte, da ich seine Opfer gefunden hatte. Und wenn das kein Grund war... Ich hatte seinen Spielchen ein Ende bereitet. Das hatte ich mir zumindest eingebildet, bis die Falltür aufgegangen war. Jedes Mal, wenn ich an die Falltür dachte, sah ich die Gesichter der beiden Jungen wieder vor mir: das eine leblos und voller Blut, das andere genauso blutig und völlig verängstigt, mit dieser furchtbaren Gewissheit.

Ich würde wiederkommen und vor Gericht aussagen müssen, und es gab nicht mehr Beweise als vorher.

»Nein«, sagte ich. »Ist Almand geständig?«

»Er sagt kein einziges Wort«, sagte Klavin. »Das mit seinem Sohn war vermutlich ein ziemlicher Schock für ihn, aber er hat es mehr oder weniger verdrängt und gesagt, der Junge sei schon immer ein Schwächling gewesen.«

»Das sind nicht seine Worte«, sagte ich. »Das hat ihm jemand anders eingeredet.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Stuart. Er drehte uns den Rücken zu und sah über das Land, das so eine schreckliche Ernte gebracht hatte. »Und er wird auch nicht reden, aus lauter Angst, seinen Fickkumpel zu verraten.«

Ich war etwas überrascht über Stuarts Wortwahl. Aber wenn ich mir diese Leichen und das Innere der Scheune so oft hätte ansehen müssen wie Stuart, wäre ich bestimmt noch mehr runter mit den Nerven als ohnehin schon.

Ich wusste selbst nicht, was ich hier wollte. Hier gab es weder Geister noch Seelen, und von den acht jungen Männern, die man hier verscharrt hatte, war auch nichts mehr übrig. Hier gab es nichts als beißende Kälte, heulenden Wind und zwei wütende Männer, die sich viel zu lange, aus viel zu großer Nähe hatten ansehen müssen, was Menschen sich alles antun können.

»Was passiert mit dem Schuppen?«, fragte ich. Tolliver drehte sich dorthin um, genau wie Stuart.

»Wir müssen ihn vollständig zerlegen und abtransportieren«, sagte Klavin. »Ansonsten werden ihn die Schaulustigen in Stücke reißen. Wie Sie sehen, hat die Spurensicherung die Teile, die am meisten mit Blut befleckt waren, bereits ins Labor gebracht. Und die Werkzeuge, die dort drin waren, wie Handschellen, Brandeisen, Klammern und Sexspielzeuge sind ebenfalls im Labor. Wir haben jede Menge Leute hier hoch geholt.«

Tolliver verzog angewidert den Mund. »Wie konnte er sich morgens nur im Spiegel ansehen?«, fragte er. Es kommt nicht oft vor, dass Tolliver in einer beruflichen Situation wie dieser etwas sagt. Aber Männer sind weniger mit der Vorstellung vertraut, vergewaltigt zu werden, als Frauen. Deshalb sind sie über Vergewaltigungen besonders entsetzt. Frauen ist das Grauen hiervor genauso angeboren wie ihre Genitalien.

»Weil er Freude daran empfunden hat«, sagte ich. »Man kann sich leicht im Spiegel ansehen, wenn das Leben Freude macht.«

Stuart drehte sich überrascht zu mir um. »Ja«, sagte er. »Er war wahrscheinlich ein glücklicher Mensch. Tom Almand hat es geschafft, alle im Ort jahrelang zu täuschen. Er muss tagtäglich stolz darauf gewesen sein. Der Einzige, den er doch nicht täuschen konnte, war sein Sohn.«

»Alle anderen hat er getäuscht?«, fragte ich.

Tolliver nahm meine Hand, und ich drückte sie.

»Seine Kollegen vom Gesundheitszentrum meinten, sie seien bestens mit ihm ausgekommen. Er sei stets pünktlich gewesen, habe alle seine Verabredungen eingehalten und auf seinem Fachgebiet gute Entscheidungen getroffen. Und in den acht Jahren, in denen er hier sei, hätten sich nur wenige Patienten über ihn beschwert.«

Ich war beeindruckt, dass sie in so kurzer Zeit schon so viele Informationen zusammengetragen hatten. Ich fragte mich, ob man ihn von Anfang an verdächtigt hatte, aufgrund seines Profils oder so.

»Aber was ist mit seinen Freunden?«, fragte ich.

»Er scheint keine wirklichen Freunde zu haben«, sagte Stuart. »Oh, er saß in den letzten sechs Jahren im Krankenhausvorstand, zusammen mit Len Thomason und Barney Simpson, aber das ist nicht weiter verwunderlich. Alle drei kennen sich im Gesundheitswesen aus, wenn auch in unterschiedlichen Fachgebieten. Dieser Pfarrer, der den Gedenkgottesdienst gehalten hat, wurde letztes Jahr ebenfalls in den Vorstand gewählt. Sie haben versucht, staatliche und private Gelder zu akquirieren. Wie Sie sicherlich bemerkt haben, braucht Knott County dringend ein neues Krankenhaus.«

Alle Straßen schienen zum Krankenhaus zu führen. Egal, wo ich losfuhr, ich landete vor dem Eingang des Knott-County-Memorial-Krankenhauses.

»Hat der Junge mittlerweile schon irgendetwas gesagt?«, fragte ich, wohl wissend, dass Stuart und Klavin mir schon bald keine Fragen mehr beantworten würden.

»Noch nicht.«

»Ich kann mir aber sicher sein, dass er schwer und rund um die Uhr bewacht wird?«

Klavin sagte: »Da können Sie sich absolut sicher sein. Diesem Jungen wird nichts zustoßen.«

»Seine Familie hat sich gemeldet?«

»O ja, sie hatte ihn am Vorabend vermisst gemeldet. Und wir haben seinen Wagen ein, zwei Kilometer vor dem Almand-Anwesen am Straßenrand gefunden. Er hatte einen platten Reifen und keinen Ersatzreifen dabei.«

»Das erklärt einiges. Angesichts des Wetters hat er sich bestimmt über eine Mitfahrgelegenheit gefreut.«

»Kinder glauben nie, dass ihnen etwas zustoßen könnte«, sagte Stuart grimmig.

Er hatte das Gegenteil erlebt und würde nie mehr derselbe sein.

»Würden Sie bitte auch Manfred Bernardo bewachen lassen?«, fragte ich.

»Er ist älter als die anderen Jungen«, sagte Stuart.

»Aber er ist in den Fall verwickelt.«

»Er ist erwachsen, und er liegt im Krankenhaus, wo ihn viele Leute sehen können«, sagte Klavin mürrisch. »Unser Budget ist bereits völlig erschöpft.«

»Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu sprechen«, sagte ich. »Danke.«

»Wusstest du, dass sie dort sind?«, fragte Tolliver, als wir zurück nach Doraville fuhren.

»Nein, ich hatte keine Ahnung. Ich wollte mir nur noch mal das Gelände ansehen, nachdem dort aufgeräumt wurde.«

»Aufgeräumt?«

»Nachdem es dort keine Leichen mehr gibt. Nur noch Schlamm und Bäume.«

Wir fuhren eine Weile schweigend weiter. Dann sagte ich: »Tolliver, wenn du wüsstest, dass du in den nächsten drei, vier Tagen des Mordes angeklagt wirst - du weißt vielleicht noch nicht, wann genau, aber du weißt, dass es unausweichlich ist -, was würdest du tun?«

»Ich würde abhauen«, sagte Tolliver.

»Und wenn du es nicht sicher wüsstest?«

»Wenn ich glauben würde, dass ich vielleicht doch noch eine Chance hätte, nicht erwischt zu werden, oder wie?«

Ich nickte.

»Wenn ich glauben würde, dass ich mein Leben vielleicht doch ganz normal weiterführen könnte, würde ich versuchen zu bleiben«, sagte Tolliver gedankenverloren. »Mit all den Computern und den vielen Scheck- und Kreditkarten wird eine Flucht immer schwieriger. Bar zahlen ist nicht mehr üblich, und an Leute, die bar zahlen, erinnert man sich. Man muss wegen jeder Kleinigkeit den Führerschein vorzeigen. Es ist nicht einfach, in den Vereinigten Staaten unterzutauchen, und es ist nicht einfach, ohne Pass eine Grenze zu überqueren. Wenn man kein Berufsverbrecher ist, ist das eine wie das andere beinahe unmöglich.«

»Ich glaube nicht, dass wir es hier mit einem Berufsverbrecher zu tun haben, sondern mit einem leidenschaftlichen Amateur.«

Tolliver sagte: »Lass uns von hier verschwinden.«

Er hatte keinerlei Lust mehr, meinen Launen nachzugeben.

Wir hatten uns früher auch schon gestritten, aber da war es nie so persönlich gewesen. Jetzt waren wir mehr als nur Manager und Schützling, Bruder und Schwester, mehr als Überlebende ein und derselben Hölle.

Außerdem hatte er recht. Wir waren nicht befugt, uns in die Arbeit der Polizei einzumischen, und Polizei war weiß Gott genug vor Ort. Aber jedes Mal, wenn ich an Chuck Almand dachte, der mit dreizehn gestorben war, weil er mir zeigen wollte, welches Leben er gelebt hatte als Sohn eines Mannes, der andere Jungen aus purem Zeitvertreib folterte ... Doch dann sagte ich mir, Er hat es geschafft. Er hat dich und die Polizei auf die richtige Spur gebracht, und genau das hat er gewollt. Sollen die sich doch jetzt um den Fall kümmern.

»Gut«, sagte ich. »Lass uns fahren.«

Tollivers Schultern entspannten sich. Bis zu diesem Moment hatte ich gar nicht bemerkt, wie angespannt er gewesen war.

Er hatte recht.

Wir mussten zum Polizeirevier, um unsere Zeugenaussagen zu machen, und da noch ziemlich viele Journalisten da waren, riefen wir mit dem Handy vorher an und fragten, ob wir den Hintereingang benutzen dürften. Unsere Bitte wurde abgelehnt. »Da hinten sind schon zu viele Leute«, bekamen wir zu hören. »Die Jungs von der Bundespolizei haben ihre Autos dort abgestellt und ein paar Gerichtsmediziner. Außerdem machen unsere Hilfssheriffs Überstunden. Parken Sie vor dem Revier, und wir stellen jemanden dort ab, der Sie reinlotst.«

Wegen der Medienmeute mussten wir in der Straße hinterm Bahnhof parken. Wir bahnten uns energisch einen Weg durch sie hindurch, ohne nach rechts oder links zu sehen. Zum Glück schafften wir es beinahe bis zum Eingang, bis man uns erkannte. Als Fragen laut wurden, die ich nicht beantworten würde, konzentrierte ich mich auf die Tür. Hoffentlich war es das letzte Mal, dass wir dieses Gebäude betraten. Hilfssheriff Rob Tidmarsh hielt uns schon die Tür auf. Er führte uns in einen Verhörraum. Um genau zu sein, war es derselbe, in dem wir solch unwillkommene Gäste gewesen waren. Jetzt stand dort ein Laptop, an dem ein junger Mann saß, der unsere Aussagen zu Protokoll nehmen würde. Wir schilderten ihm, was in der Scheune vorgefallen war, er druckte alles aus und wir unterschrieben. Das Ganze dauerte etwa anderthalb Stunden, etwa doppelt so lange wie gedacht. Währenddessen sahen wir Sandra Rockwell bestimmt sechs Mal draußen vorbeigehen, aber sie hatte nicht das Bedürfnis, mit uns zu sprechen.

Es gab jetzt viel zu tun, dachte ich, während Tolliver mit dem jungen Mann redete, der etwa in unserem Alter war. Bei einem Massenmord müssen Millionen Details zusammengetragen und ausgewertet werden. Ich wollte nicht für so etwas verantwortlich sein. Und dann noch Fremde vor die Nase gesetzt bekommen, die mir vor meinen eigenen Mitarbeitern den Fall wegnehmen oder zumindest wichtige Bereiche davon ... Kein Wunder, dass Rockwell keine Zeit hatte, sich mit uns zu unterhalten. Für sie war es jetzt wichtiger, eine wasserdichte Anklage gegen den Mann zusammenzubekommen, der acht Morde und einen Mordversuch begangen hatte, statt das Ego einer Frau zu streicheln, die ihren Job erledigt hatte und dafür bezahlt worden war.

So sehr ich mich auch in den Fall verstrickt fühlte - es war höchste Zeit für mich zu gehen. So lange war ich noch nie geblieben, zumindest war es mir noch nie so lange vorgekommen. Ich hatte auch noch nie so viele Leichen bei einem einzigen Auftrag gefunden. Das hier war für uns alle ein erstes Mal.

Am liebsten hätte ich einigen Leuten mit Gewalt in die Köpfe geschaut, um den zweiten Mörder zu enttarnen! Denn dass es einen gab, davon war ich nach wie vor fest überzeugt. Aber leider ging das nicht, und Tolliver hatte recht. Das war nicht mein Job. Enttäuscht wünschte ich mir zum ersten Mal, telepathische Fähigkeiten zu besitzen. Dann bräuchte ich nur die Gedanken bestimmter Leute zu lesen und wüsste, ob sie schuldig waren oder nicht.

Aber das würde nicht passieren, und telepathische Fähigkeiten wünsche ich nicht mal meinem ärgsten Feind. Wenn ich Hellseherin wäre... Ich musste nur an das Chaos denken, in das Xylda durch ihre eher mäßig ausgeprägte Gabe gestürzt worden war, daran, wie einsam sich Manfred fühlte, um zu wissen, dass ich auf keinen Fall mit ihnen tauschen wollte. Meine eigene Gabe war so speziell, dass sie nur sehr begrenzt einsetzbar war. Und in dieser kleinen Stadt am Fuße der Berge war ich wirklich an meine Grenzen gestoßen.

Wir verließen das Revier durch dieselbe Tür, durch die wir gekommen waren, aber in der Zwischenzeit hatte die Medienmeute unseren Wagen entdeckt und ihn umzingelt. Tolliver legte den Arm um mich, und wir bahnten uns einen Weg durch die Menge. Obwohl mein Arm eingegipst war und ich einen Kopfverband trug, war es nicht leicht, sie zum Ausweichen zu bewegen. Vielleicht waren wir auch ihnen zu sehr ausgewichen, was ihren Wunsch, uns zu »schnappen«, nur verstärkt hatte.

Ich hätte schwören können, einen Reporter zu kennen. Dann erinnerte ich mich, dass ich ihn auf einem überregionalen Fernsehsender gesehen hatte. »Haben Sie schon jemals so viele Leichen an einem Ort gefunden?«, fragte er. Das war eine so direkte Frage und genau das, was ich gerade selbst gedacht hatte, dass ich sagte: »Nein, nie. Und ich möchte das auch nie mehr erleben.«

Die Medienmeute wurde lauter. Wenn ich eine Frage beantwortete, dann vielleicht auch andere.

Aber dann beging der Reporter einen großen Fehler, er stellte die »Wie hat sich das angefühlt?«-Frage.

Solche Fragen beantworte ich grundsätzlich nicht. Meine Gefühle sind allein meine Sache.

Nachdem ich mit Mühe die Tür aufbekommen, mich angeschnallt und die Türen von innen verriegelt hatte, war ich vor weiteren Fragen in Sicherheit. Tolliver ließ sich auf den Fahrersitz fallen, legte den ersten Gang ein, und die Medienmeute stob auseinander, um uns fahren zu lassen.

Glücklicherweise blieben alle beim Revier, in der Hoffnung, von der Polizei oder den SBIlern weitere Informationen zu bekommen. Wir schafften es, Twylas Haus ungestört zu erreichen. Nur Twylas Auto stand in der Garage. Wie lange würde es wohl noch dauern, bis sie ihren Enkel begraben konnte? Als Nächstes kämen der Prozess und der damit verbundene Medienrummel. Jeff McGraw würde noch lange nicht sanft ruhen können, nicht in den Augen seiner Angehörigen.

Tolliver hielt hinter Twylas Wagen, ließ den Motor laufen und stieg wortlos mit dem Hüttenschlüssel aus. Vielleicht hatte er Angst, ich könnte meine Meinung bezüglich unserer Abreise doch noch ändern.

Während ich wartete, tauchte ein Wagen hinter uns auf. Sekunden später klopfte jemand ans Fenster, und ich ließ es herunter. Pfarrer Doak Garland stand vor mir, ein Ausbund an Sanftmut und Unschuld.

Er sagte: »So schnell sieht man sich wieder, Miss Connelly.«

»Hallo. Ich habe ganz vergessen, Ihnen zu sagen, was für einen tollen Gedenkgottesdienst Sie gehalten haben. Ich hoffe, Sie haben ordentlich Geld für die Beerdigungen zusammenbekommen. «

»Gelobt sei der Herr! Ich glaube, wir haben jetzt um die zwölftausend Dollar zusammen«, sagte er.

»Das ist ja großartig!« Ich war wirklich beeindruckt. Das war viel Geld für einen so armen Bezirk wie Doraville. Geteilt durch die sechs Jungen war das allerdings nicht viel, nicht bei den heutigen Kosten einer Beerdigung. Aber es war eine große Hilfe.

Als könne er Gedanken lesen, sagte Doak: »Drei der Jungen hatten eine Sterbeversicherung und brauchen demnach kein Geld. Und mit einer Tombola wollen wir noch mindestens dreitausend Dollar mehr einnehmen. Twyla hat großzügigerweise angeboten, die Summe, die uns die Tombola einbringt, noch einmal zu verdoppeln.«

»Das ist wirklich großzügig.«

»Ja, sie ist eine tolle Frau. Darf ich Ihnen rein neugierdehalber eine Frage stellen, Miss Connelly?«

»Äh... ja.«

»Ich weiß gar nicht, ob ich jemals in der alten Scheune hinter dem Almand-Haus war. Wo war der arme junge Mann?«

»Er befand sich in einer Art - oh, warten Sie, ich darf nicht darüber reden. Tut mir leid, ich musste es der Polizei versprechen.«

»Nun, es gibt die wildesten Gerüchte«, sagte er. »Ich wollte endlich mal Fakten hören. Wo ist Ihr Begleiter?«

»Er kommt gleich wieder«, sagte ich.

Plötzlich fühlte ich mich sehr einsam, obwohl ich in einer Auffahrt an einer befahrenen Landstraße stand. Ich zuckte zusammen und tat so, als vibriere mein Handy. »Hallo?«, sagte ich und hielt es mir ans Ohr. »Oh, hallo Sheriff. Ja, ich bin hier bei Twyla und unterhalte mich mit Pfarrer Garland. Er steht direkt neben mir, wollen Sie ihn sprechen? Nein? Gut.« Ich setzte dem Pfarrer gegenüber eine entschuldigende Miene auf, er lächelte, winkte und ging auf das Haus zu. Ich hielt die gespielte Unterhaltung aufrecht, bis er durch die Hintertür hineingegangen war.

Einerseits kam ich mir vor wie eine Vollidiotin, andererseits war ich erleichtert, dass er weg war. Wo blieb Tolliver, verdammt noch mal? Was machte er so lang da drinnen?

Ich drehte mich zur Seite und schnallte mich ab. Ich würde ins Haus gehen und nachsehen. Ich hatte wirklich Angst. Ich hatte das dumpfe Gefühl, etwas übersehen zu haben.

Etwas, das den neunten Jungen betraf, den, der überlebt hatte. Er war identifiziert worden. Er befand sich in Sicherheit, in einem Krankenhaus in Asheville. Vielleicht würde er nie über das sprechen können, was ihm zugestoßen war, aber irgendwann würde er es bestimmt tun, wenn er sich seelisch und körperlich besser fühlte. Dann würde er den anderen Mörder identifizieren, falls es ihn denn gab.

Doch was, wenn er den anderen Mörder nie gesehen hatte? Was, wenn er in dem Stall gefangen gehalten worden war, weil ihn Tom Almand, und zwar nur Tom Almand, entführt hatte? Vielleicht war dies das erste und einzige Mal gewesen, dass Almand seinen Sohn gezwungen hatte, ihm zu helfen. Und genau das hatte Chuck in den Selbstmord getrieben. Vielleicht hatte Tom nicht die Chance gehabt, von der Entführung zu erzählen, bevor er geschnappt wurde. Dann hatte sein Komplize noch größere Chancen, ungeschoren davonzukommen.

Und Doak Garland war es nicht. Er hatte mich nur gefragt, wo man den Jungen gefangen gehalten hatte. Wenn er der andere Mörder gewesen wäre, hätte er es gewusst. Hätte er nur Spuren verwischen wollen, hätte er gar nichts sagen müssen. Was spielte meine Meinung schon für eine Rolle? Warum sollte er mir so eine Frage stellen, außer er kannte die Antwort wirklich nicht?

Aber irgendjemand hatte Bescheid gewusst, jemand, mit dem ich erst neulich gesprochen hatte. Jemand hatte gesagt, der Junge sei unter dem Stall versteckt gewesen oder so etwas Ähnliches. Wer war das gewesen? Wir hatten uns mit so vielen Menschen unterhalten. Rain oder Manfred konnten es nicht gewesen sein, und auch niemand von den Polizisten. Die wussten ohnehin Bescheid, und das war in Ordnung so. Aber wer war es dann gewesen? Mit wem hatte ich gesprochen? Mit der Bestattungsunternehmerin Cleda. Nein, sie war es nicht.

Ich saß da, die Wagentür halb geöffnet, einen Fuß bereits am Boden. Ganz plötzlich, sodass ich wie betäubt war, hielt ein riesiger Geländewagen neben mir. Die Tür wurde mir aus der Hand gerissen, jemand packte mich am Arm und zog mich aus dem Wagen. Dann traf mich eine große Hand genau dort, wo vor einiger Zeit die Schaufel auf mich niedergesaust war, und ich wurde bewusstlos.

 

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